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Tiny House in Kißlegg – Pioniere im Allgäu

Tiny Houses verbrauchen wenig Fläche, sind günstig und bieten viel Flexibilität. Für Planung und Genehmigung fehlt jedoch vielerorts die Erfahrung. Erste Städte und Gemeinden trauen sich an Projekte mit der neuen Wohnform heran.

Auf der einen Seite eine ländliche Wohnsiedlung mit Einfamilienhäusern, auf der anderen das atemberaubende Panorama der Alpen – und in der Mitte: Gut zwei Hektar Land, die Testfeld für eine neue Wohnform werden sollen. Das landwirtschaftliche Grundstück der Landsiedlung Baden-Württemberg liegt am Ortsrand von Kißlegg. Schon lange sind die Gemeinde und die Landsiedlung im Gespräch, um dort Wohnraum zu schaffen. Doch Eigenheiten der Fläche, wie die Tragfähigkeit des Untergrunds, haben den Bau gewöhnlicher Einfamilienhäuser unmöglich gemacht. Nun sollen Tiny Houses und Modulhäuser neue Möglichkeiten eröffnen. 

Kißlegg im Allgäu
Kißlegg im Allgäu

Immer wieder hatten sich Bürger bei der Gemeinde Kißlegg erkundigt, ob Tiny Houses geplant seien. Viele Bürger interessieren sich für die moderne Wohnform. Und auch bei der Landsiedlung war das Interesse groß, Erfahrungen mit den kleinen Häusern zu sammeln. So kamen Gemeinde und Landsiedlung schnell zusammen, um das Modellprojekt auf die Beine zu stellen. Auf dem Grundstück soll nun eine Kompakthaussiedlung entstehen. Die Kompakthäuser haben nicht nur den Vorteil, dass sie für den Untergrund des Grundstücks geeignet sind. Sie versiegeln auch deutlich weniger Fläche als eine Erschließung mit Einfamilienhäusern, da gewöhnlich kein Fundament gegossen werden muss. „Wir finden eine Bauform, die weniger Ressourcen verbraucht, sehr spannend“, sagt Bürgermeister Dieter Krattenmacher. 

Viele Interessenten für Tiny Houses in Kißlegg

Seit das Modellvorhaben öffentlich gemacht wurde, haben sich bereits über 100 Interessenten bei der Landsiedlung gemeldet. „Die Leute, die sich bei uns melden, sind teils sehr jung, teils im Rentenalter, sie haben die verschiedensten Berufe“, erzählt Markus Schnabel, Prokurist Flächenmanagement und Grundstücksentwicklung bei der Landsiedlung. „Das ist ein richtiger Querschnitt unserer Gesellschaft.“ Tiny Houses bieten die Möglichkeit, mit relativ niedrigen Kosten Wohneigentum zu schaffen. Die Landsiedlung will die Grundstücke je nach Wunsch per Erbpacht oder Pacht vergeben. „Das ist recht günstig für die Interessenten“, sagt Schnabel. Und ein Tiny House bekommt man schon ab 40.000 Euro. Darüber hinaus ist man mit einem Kompakthaus weniger stark an einen Ort gebunden. Man kann damit recht unkompliziert von einem Grundstück auf ein anderes umziehen.

In der jüngeren Generation ist man weniger an einen Job und einen Ort gebunden. Die Lebensqualität spielt eine größere Rolle. Man will an schönen Orten wie Kißlegg leben können, aber auch die Freiheit haben, morgen ganz woanders zu wohnen. Mit Kompakthäusern kann man diesen Wunsch nach Flexibilität abbilden.

Markus Schnabel

Markus Schnabel über das Tiny House-Projekt in Kißlegg
Markus Schnabel, Prokurist Flächenmanagement und Grundstücksentwicklung bei der Landsiedlung Baden-Württemberg

Der Tiny House-Trend kommt ursprünglich aus den USA. In Deutschland kommt er bisher nur langsam an. Ein Tiny House-Village am Rande der Ortschaft Mehlmeisel im Fichtelgebirge ist bisher die einzige fertige Siedlung dieser Art. Auch in Baden-Württemberg sind einige Projekte in Planung. In Winnenden wurden Grundstücke für Tiny Houses in die Planentwürfe für ein neues Wohngebiet aufgenommen, Schorndorf und Eislingen suchen nach einer geeigneten Baufläche. In Löffingen gibt es bereits einen Aufstellungsbeschluss für eine touristische Tiny House-Siedlung mit 40-50 kleinen Häusern. „Wir haben ein Bodengutachten und Umweltuntersuchungen angefordert, wir hatten Vorgespräche mit der Baugenehmigungsbehörde und dem Landratsamt, wir haben uns von Hochschwarzwald Tourismus beraten lassen – und von keiner Seite haben wir nennenswerte Bedenken gehört. Ganz im Gegenteil“, sagt Bürgermeister Tobias Link. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass das eine gute Sache für Löffingen ist.“ 

Unsicherheiten bei Tiny House-Projekten in Deutschland

Doch die Umsetzung von Tiny House-Projekten kann mehrere Jahre dauern. Denn im Gegensatz zu den USA braucht es in Deutschland auch für diese Bauform einen Bebauungsplan. Städte und Gemeinden, die eine Tiny House-Siedlung planen oder auf ihrem Gemeindegebiet zulassen möchten, müssen sich also mit allen üblichen Prüfungen und Genehmigungsverfahren auseinandersetzen. Hier gibt es aufgrund der Neuheit der Wohnform einige Unsicherheiten. 

Tiny House von Innen
Tiny House von Innen

„Wir möchten den Bebauungsplan nach Paragraph 13b BauGB, also im beschleunigten Verfahren, aufstellen“, erklärt Kißleggs Bürgermeister Dieter Krattenmacher. Das würde für die Gemeinde einige Erleichterungen bedeuten. Sie müsste etwa Eingriffe nicht ausgleichen und könnte den Bebauungsplan aufstellen, ohne dass vorher der Flächennutzungsplan angepasst werden muss. Den Aufstellungsbeschluss hat der Gemeinderat im Dezember 2019 gefasst. „Unser Projekt ist ein Test", sagt Schnabel. "Wir wollen herausfinden, was möglich ist, damit andere Kommunen sich daran orientieren können. Wir sind aber auch mit dem Wissen an die Aufgabe gegangen, dass der Test negativ ausfallen könnte.“ Bei einem Bebauungsplanverfahren nach § 13b BauGB ist eine Umweltprüfung nicht erforderlich. Die Gemeinde möchte jedoch einen Umweltbericht zugunsten des Natur- und Landschaftsschutzes erstellt haben und die empfohlenen Ausgleichsmaßnahmen umsetzen lassen. Bis Herbst sollen die Untersuchungen abgeschlossen sein. Sofern sich dabei kein K.O.-Kriterium ergibt, kann ein Bebauungsplan bis Ende des Jahres aufgestellt werden. 2021 könnten dann bereits die ersten Tiny Houses stehen. 

So soll die Tiny House-Siedlung aussehen

Für die Siedlung haben Gemeinde und Landsiedlung bereits konkrete Vorstellungen. „Es soll unterschiedliche Grundstücksgrößen, Gebäudetypen und Gestaltungsmöglichkeiten geben“, erzählt Schnabel. „Trotzdem möchte man keinen Wildwuchs, deshalb müssen die Möglichkeiten und Grenzen klar definiert sein.“ Neben dem Anschluss an das Straßen-, Wasser-, Abwasser- und Elektrizitätsnetz sowie der Versorgung mit Telefon und Breitband soll es in der Siedlung auch Gemeinschaftseinrichtungen geben. „Uns ist wichtig, dass das Gebiet im Zuge des Projekts ökologisch aufgewertet wird. Zum Beispiel durch einen guten Bepflanzungs- und Eingrünungsplan“, sagt Krattenmacher. „Wir sind European Energy Award-Gemeinde und haben ökologisch hohe Standards.“ 

Plan für die Tiny House-Siedlung in Kißlegg
Eine Systemskizze der Landsiedlung Baden-Württemberg zeigt, wie eine städtebauliche Planung für das Grundstück aussehen könnte.

Um eine möglichst hohe Akzeptanz der Anwohner für das Projekt zu bekommen, setzt die Gemeinde auf Bürgerbeteiligung. „Wir planen das Gebiet nach dem Bottom-Up-Prinzip“, sagt Krattenmachen. „Mit einem solchen Bürgerbeteiligungsmodell haben wir schon einmal bei einem Flächenrecyclingprojekt gute Erfahrungen gesammelt. Und hier erschien das ebenfalls sinnvoll, weil sich jeder etwas anderes unter einer Tiny House-Siedlung vorstellt. Man darf nicht vergessen, dass es um die erste Tiny House-Siedlung in der Region geht.“ In regelmäßigen Gesprächen mit den Bürgern und den Interessenten werden die Wünsche gebündelt und Ängste ausgeräumt. 

Landsiedlung sucht nach weiteren Projektpartnern

Interesse haben auch schon viele weitere Kommunen gezeigt. „Wir haben viele Anfragen und bleiben im Gespräch“, sagt Schnabel. „Wir werden das Projekt gerne für andere Kommunen skalieren.“ Die Landsiedlung bietet sich Kommunen als Erschließungsträger an. „Wir könnten auch entsprechende Grundstücke von den Kommunen erwerben, um das Projekt wie in Kißlegg umzusetzen“, sagt Schnabel. „Diesen Vorschlag haben schon mehrere Kommunen gut angenommen, denn wenn uns das Grundstück gehört, trägt die Kommune ein geringeres Risiko.“

Vorübergehender Trend oder innovative Lösung?
Kommentar von Christopher Heck, Referent des Gemeindetags Baden-Württemberg
Christopher Heck über das Tiny House-Phänomen
Die Zukunft des Wohnens braucht neue Bau- und Wohnformen. Angemessener Flächenverbrauch und Energieeffizienz rücken in den Fokus. Welchen Beitrag können Tiny Houses leisten? Das Interesse bei den Menschen ist mancherorts vorhanden, die rechtlichen Rahmenbedingungen auch?
Der blaue Bauwagen von Peter Lustig mag vielleicht das erste „Miniaturhaus“ der Republik gewesen sein. Die „neue“ minimalistische Wohnform aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten hält auch in die baden-württembergische Stadtentwicklung Einzug. Doch so tiny und unbegrenzt ist eine Umsetzung in der deutschen und der baden-württembergischen Realität des Planens und Bauens (noch) nicht. 
Für den nach wie vor vorherrschenden Wohnraummangel in Baden-Württemberg könnte auf den ersten Blick die innovative Wohnform der Tiny Houses – bei gut gemeinten und gut gemachten Rahmenbedingungen – eine Lösung darstellen, sinken doch seit Jahren die durchschnittlichen Haushaltsgrößen und werden dies voraussichtlich auch weiterhin tun. Gerade aber auch für touristische Angebote und um Destinationen noch attraktiver zu machen, könnten die „Minihäuser“ eine Produktvariante darstellen – neben Übernachten im Baumwipfel oder im Weinfass. 
Doch wie weit ist der Rechtsrahmen für diese neue Wohnform? Mit Blick auf das kommunale Planungsrecht zeigt sich die Herausforderung, dass sowohl Bauleitplanung als auch Genehmigungspraxis lernen müssen, mit diesen neuen Wohnformen umzugehen. Dort, wo eine Nachfrage erkennbar ist, können Schritt für Schritt auch bei der Größe der ausgewiesenen und festgesetzten Grundstücke die neuen Anforderungen berücksichtigt werden. Ein Minihaus mit 40 qm Wohnfläche braucht eben kein klassisches Einfamilienhausgrundstück. Bei der Baugenehmigung für die – wenn auch auf Rädern befindliche – bauliche Anlage wird es vermutlich auch noch weitere Erfahrungen vor Ort, wie bei mobilen Hühnerställen, brauchen. Die Überlegungen zur Typengenehmigung und zum seriellen Bauen werden weiterhin aktuell bleiben, wie die Minimierung der kostentreibenden Verschärfungen an Vorschriften und Regelungen im Baubereich.
Bei all der teilweise vorherrschenden Begeisterung muss die Frage erlaubt sein, ob die energetischen Standards der Tiny Houses, denen eines „normalen“ modernen und zukunftsfähigen Wohnbauprojekts entsprechen. Wegen der vielen Außenwände und der Isolierung ist die Effizienz nicht ganz unumstritten, insbesondere dort, wo der Kubus auf Rädern wegen der straßenverkehrsrechtlichen Genehmigung auf eine Breite von 2,5 Metern begrenzt ist. Positiv scheinen dabei solche Beispiele, die auf Mobilität verzichten und einen KfW-55- bzw. Energiehaus-Plus-Standard mit den Mini- und Modulhäusern erreichen. Flächensparend und nachhaltig. Made in Baden-Württemberg – Rohstoffe, Fertigungstiefe und Wertschöpfung. 
Innovation und Nachhaltigkeit sollten bei allen Überlegungen um neue Bau- und Wohnformen, Richtschnur und Leitplanke sein. Das Konzept, auf wenig Raum zu wohnen, kann ein möglicher Denkanstoß sein.