Die Mitarbeiter des Gesundheitszentrum Baiersbronn
© Gesundheitszentrum Spritzenhaus

Gesundheitszentrum Baiersbronn - Teamarbeit ermöglicht familienfreundlichen Praxisalltag

Seit Jahren diskutiert die Fachwelt darüber, wie dem Ärztemangel im Ländlichen Raum am effektivsten zu begegnen ist. In Baiersbronn gibt eine Praxisgemeinschaft bereits seit knapp zehn Jahren eine Antwort. Teamorientiert, familienfreundlich und, wo möglich, auch mit Hilfe moderner Technologien.

Die zweitgrößte Gemeinde Baden-Württembergs nach Stuttgart ist nicht Mannheim, sondern Baiersbronn – zumindest, wenn man nach Fläche statt nach Einwohnern rechnet. In Baiersbronn leben knapp 15.000 Menschen auf 190 Quadratkilometer verteilt. Viele im Südwesten kennen Baiersbronn wegen seiner Sterneküche, doch die Gemeinde hat ein weiteres Highlight zu bieten. Seit bald zehn Jahren leben die Hausärzte am Spritzenhaus vor, wie die medizinische Versorgung der Zukunft im Ländlichen Raum aussehen könnte: teamorientiert und familienfreundlich nämlich.

Gesundheitszentrum Baiersbronn - Das Team
Das Team des Gesundheitszentrums Spritzenhaus in Baiersbronn

Die aus zwei Gemeinschaftspraxen bestehende Praxisgemeinschaft ist Teil eines ganzen Gesundheitszentrums, das im Spritzenhaus untergebracht ist und zu dem neben den Gemeinschaftspraxen eine Apotheke, ein Sanitätshaus, eine Krankenkasse, eine orthopädische Fachpraxis und eine Praxis für Physiotherapie gehören. Die hausärztliche Praxisgemeinschaft wiederum ist auf einer Fläche von 540 Quadratmetern untergebracht und hat an 60 Stunden pro Woche geöffnet.

Zusammengesetzt sind die beiden Praxen aus je zwei beziehungsweise drei Ärzten, die selbstständig niedergelassen sind, also Teilhaber der Praxen, sowie aus weiteren angestellten Ärzten. Das Konzept besteht darin, Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen, Aufgaben untereinander zu delegieren, medizinische und bürokratische Fragen im Team zu besprechen und den Arztberuf auf diese Weise familienfreundlich und attraktiv zu gestalten. Geteilt werden auch materielle Dinge wie medizinische Geräte und Labore.

Wir haben hier sozusagen zwei Modelle in einem, nämlich eine Praxisgemeinschaft, die aus zwei Gemeinschaftspraxen besteht.

Wolfgang von Meißner, teilhabender Arzt einer der beiden Gemeinschaftspraxen im Gesundheitszentrum Spritzenhaus

Wolfgang von Meißner über das Gesundheitszentrum Baiersbronn

Während die Ärzte in Gemeinschaftspraxen ihre Patienten gemeinsam behandeln, teilen sich Praxisgemeinschaften lediglich Räume und Personal. Die Ärzte der einen Gemeinschaftspraxis können allerdings Ärzte der anderen vertreten. Und genau darin sieht Wolfgang von Meißner den großen Vorteil des Baiersbronner Modells. „Wir können unsere Tage genau so planen, dass in der Praxis immer jemand für unsere Patienten da ist. Dadurch haben wir einen großen Freiheitsgrad“, so der Facharzt für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin, Anästhesie und Intensivmedizin. Die Patienten könne man auf Termine legen, die zum eigenen Alltag passen, ganz im Gegensatz zu den im Krankenhaus üblichen Schichtdiensten.

Das Gesundheitszentrum ermöglicht den Patientinnen und Patienten eine größere Auswahl

Elementar sei allerdings die Gewährleistung einer Notfallversorgung. Im Klartext: Mindestens ein Arzt muss immer da sein. Für eine Teampraxis mit mehreren Kollegen sei das aber ohne Weiteres leistbar, sagt von Meißner. Größere Praxen seien außerdem in der Lage, ein breiteres Spektrum an Ärzten und Behandlungsmethoden anzubieten, so der Mediziner. Er vergleicht das unprätentiös mit Lebensmittel-Discountern, deren Filialen sich in nächster Nähe zueinander befinden. Für den Kunden – oder Patienten – liegt der Vorteil auf der Hand: Seine Auswahl ist größer, er kann sich aussuchen, was zu ihm passt. „Sie können sich bei uns den passenden Arzt oder die passende Ärztin aussuchen. Auch das ist ein Vorteil unseres Modells. Andernfalls wären die Menschen an den Arzt gebunden, der eben bei ihnen im Teilort praktiziert“, so von Meißner. Allerdings haben Patienten sehr wohl einen fest zugeordneten Arzt, wenn sie sich erst einmal entschieden haben.

Die Gemeinde unterstützt das Gesundheitszentrum seit Tag eins

Am Erfolg der Praxisgemeinschaft hatte die Gemeinde Baiersbronn von Beginn an einen Anteil. Angefangen beim Spritzenhaus selbst, dessen Umwandlung in ein Ärztehaus zunächst nicht bei allen Bürgern Baiersbronns auf Gegenliebe stieß, für die sich Bürgermeister Michael Ruf und einige Gemeinderäte aber nachdrücklich einsetzten. Dem Ärztehaus in Klosterreichenbach, das in einem ehemaligen Volksbank-Gebäude untergekommen ist und das dieser auch noch immer gehört, gewährte die Gemeinde gar eine Mietausfallbürgschaft für 20 Jahre.

Das hier realisierte Modell entspricht den heutigen Anforderungen und Lebensmodellen von Ärzten. Es bietet sowohl die Möglichkeit selbst als Eigentümer oder als Angestellter in einem großen Team zusammen zu arbeiten. Gemeinsam kann auch über eine Infrastruktur verfügt werden, welche eine einzelne Praxis so nicht leisten könnte. Es werden Synergien gebündelt und Verantwortung und Risiko auf mehreren Schultern getragen. Wie unser Beispiel zeigt, ist das auch ohne große finanzielle Beteiligung der Kommune realisierbar.

Michael Ruf, Bürgermeister der Gemeinde Baiersbronn

Bürgermeister Michael Ruf über das Gesundheitszentrum Baiersbronn

Nicht zuletzt hätten Bürgermeister Ruf und der Gemeinderat auch darauf reagiert, dass kein Arzt sich heutzutage im Ländlichen Raum niederlassen will, der sich nicht auf eine adäquate Betreuung seiner Kinder verlassen kann. Landärzte ließen sich nur dort nieder, wo sie auch sicher sind, dass ihre Kinder einen Betreuungsplatz finden, sagt Wolfgang von Meißner. „Es ist ganz einfach: Gibt es keine Betreuungsplätze, dann können die Ärzte eben nicht arbeiten“, so der Mediziner. „Durch die Realisierung der Gemeinschaftspraxen konnte die hausärztliche Versorgung in der Gemeinde Baiersbronn auf lange Sicht gesichert werden“, freut sich Bürgermeister Ruf. „Nicht nur, dass sich durch das erfolgreiche Modell weitere Ärzte in der Praxis niedergelassen haben, auch konnte nach ähnlichem Modell eine zweite Praxis in der Gemeinde etabliert werden.“

Gesundheitszentrum hat in der Corona-Pandemie Großes geleistet

Auch während der Corona-Pandemie sind die Gemeinschaftspraxen ein Segen für die Gemeinde. „Insbesondere während der Phase der Pandemie sind die Ärzte am Spritzenhaus für die Gemeinde ein wichtiger Partner, Berater und Unterstützer“, berichtet Michael Ruf. „Durch eine einmalige Kooperation mit den Ärzten konnten wir in den Bereichen Schnelltests, Testkonzepte an Schulen, Testzentrum und Impfzentren in der Gemeinde hervorragende Strukturen anbieten.“ Die Arbeit in Baiersbronn verteilt sich indes nicht nur auf die Ärzte, sondern auch auf 15 Medizinische Fachangestellte (MFA), darunter fünf Versorgungsassistenten in der Hausarztpraxis (VERAH) und eine Physician Assistant (PA, medizinische Assistentin). Zu den Aufgaben der MFA gehört es unter anderem, Termine für Corona-Abstriche zu koordinieren, die in der Tiefgarage des Spritzenhauses in einer Art Drive-In-Teststation gemacht werden. Zur modernen Ausrichtung der Gemeinschaftspraxis gehört auch die Nutzung der Telemedizin. So hat man im Zuge der Pandemie ein „virtuelles Sprechzimmer“ für Bewohner des Baiersbronner Altenwohnheims eingerichtet, das auch rege genutzt wird. Für eine einfache Autofahrt vom Spritzenhaus zum Heim bräuchten die Ärzte in der Flächengemeinde Baiersbronn ganze 25 Minuten – der Vorteil der digitalen Lösung liege also auf der Hand.

Gesundheitszentrum erhält Förderung der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg

„In Baiersbronn ist das gelungen, was sich viele junge Ärzte heute wünschen: Eine Kooperation von Medizinern, die sich Medizingeräte, Labor und Arbeitszeit teilen und sich fachlich austauschen können. Dazu ist im Spritzenhaus alles rund um die Arztpraxis eingerichtet, was die Patienten benötigen: Apotheke, Physiotherapie et cetera“, sagt Eva Frien von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), die das „regiopraxis“ genannte Modell von Anfang an gefördert hat. Zu einer Anschubfinanzierung von 75.000 Euro kam in den ersten drei Jahren eine Strukturpauschale von 3.000 Euro pro Quartal. „Die regiopraxis ist seinerzeit eingerichtet worden als innovatives Modell, um dem Ärztemangel im Ländlichen Raum zu begegnen. Man hat einen Versorgungsbedarf festgestellt und die Gefahr der Unterversorgung gesehen. Daher hat die Vertreterversammlung der KVBW ein Förderprogramm verabschiedet, das Hausärzte, die sich niederlassen wollen, unterstützt. Im Falle von Baiersbronn ist die regiopraxis von einem privaten Investor unterstützt worden und es gab auch ein großes bürgerschaftliches Engagement“, erklärt Frien. Der Expertin zufolge ist die Anzahl der Nachahmer des Baiersbronner Modells seither gestiegen.

Der Trend geht zu gemeinsamen Praxen und flexibleren Arbeitszeiten

Sie verweist dabei auf Zahlen des aktuellen Versorgungsberichts der KVBW. Demnach nimmt einerseits die Teilzeitarbeit unter KVBW-Mitgliedern zu: Zwischen 2014 und 2021 ist diese von acht auf 18 Prozent gestiegen. Noch stärker ist der Anstieg bei den angestellten Ärzten: Waren 2010 nur 1.314 KVBW-Mitglieder angestellt, lag die Zahl im vergangenen Jahr bereits bei 4.679. Auch die Zahl der Großpraxen ist signifikant gestiegen. Als solche definiert man Kooperationen mit mindestens fünf Ärzten. Vor zehn Jahren gab es davon 102 im Land, heute bereits 454. Um Beispiele für die zunehmende Verbreitung des Modells zu finden, muss man nicht einmal die Baiersbronner Gemarkung verlassen. Denn im Ortsteil Klosterreichenbach hat vor vier Jahren ein Ableger der Hausärzte am Spritzenhaus eröffnet. Die „Ärzte am Reichenbach – MEDI-MVZ“ sind unter gesellschaftlicher Beteiligung von Ärzten aus dem Spritzenhaus entstanden, das heißt, dass dort ausschließlich angestellte Ärzte arbeiten. Dazu kam eine weitere hausärztliche Teampraxis. Momentan arbeiten dort zwei Fachärztinnen und ein Facharzt für Allgemeinmedizin sowie zwei Ärztinnen und ein Arzt in Weiterbildung.