Ganztagsbetreuung an baden-württembergischen Grundschulen in der Praxis
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Ganztagsbetreuung: Kommunen wollen etablierte Betreuung beibehalten

Auch ohne einen Rechtsanspruch haben die meisten Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg längst eine Ganztagsbetreuung für Grundschülerinnen und Grundschüler organisiert – am Bedarf und den örtlichen Gegebenheiten ausgerichtet. Diese droht nun jedoch in einigen Kommunen in Gefahr zu geraten, entspricht sie nicht vollständig den Vorgaben des neuen Rechtsanspruchs, wie Verantwortliche aus Engen, Ebhausen und Renningen berichten.

Eigentlich ist die Stadt Engen bei der Betreuung von Grundschülerinnen und Grundschülern hervorragend aufgestellt. Die Grundschule Engen bietet eine Kernzeitbetreuung vor dem Unterrichtsbeginn an, die von einem Ganztagsangebot nach dem Pflichtunterricht ergänzt wird. Dazu gehören ein Mittagessen in der Schulmensa und eine Hausaufgabenbetreuung bis 14:45 Uhr. Danach geht es weiter: „Bis zum Ende des Ganztagesbetriebs um 15:55 Uhr finden mit diversen Kooperationspartnern - örtliche Vereine, Jugendbegleiterprogramm – zahlreiche AGs statt“, sagt Engens Bürgermeister Johannes Moser im Gespräch mit die:gemeinde und ergänzt: „Die Grundschule Engen war sogar die erste Ganztagsgrundschule im Landkreis Konstanz.“

Betreuung im Ganztag durch pädagogisches Fachpersonal?

Auch die Grundschule in Engens Stadtteil Welschingen bietet zwischen 7:40 Uhr und 13 Uhr eine kostenpflichtige Kernzeitbetreuung an. Organisiert wird sie vom „Förderverein Grundschule Welschingen“, der von engagierten Eltern betrieben wird. Also alles bestens, sollte man meinen. Doch es gibt einen Haken: Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen, der von 2026 an schrittweise eingeführt werden soll, verpflichtet die Kommunen nach heutigem Stand dazu, die Betreuung der Kinder durch pädagogisches Fachpersonal zu gewährleisten. Eine Auflage, die aus Sicht Johannes Mosers unnötig ist und Städte wie Engen vor Probleme stellen würde. „Bisher decken wir unsere Betreuungszeiten (Kernzeit) in Engen mit städtischem Personal ab, das sehr engagiert ist und einen tollen Job macht, jedoch nicht aus pädagogischen Fachkräften besteht. In Welschingen wird die Betreuung durch die Elternschaft des Fördervereins toll umgesetzt. Angesichts des Fachkräftemangels – insbesondere im pädagogischen Bereich – wird es schwierig werden, pädagogisches Personal zu finden“, sagt Moser. 

Moser: Praxis zeigt, dass es ohne Fachkräfte funktioniert

Die gute Arbeit an der Grundschule in Engen, die größtenteils von Frauen geleistet wird, die selbst Mütter sind, ist für ihn Beleg dafür, dass es auch ohne Fachkräfte funktioniert. „Wer daheim zwei Kinder großzieht, kann auch die Betreuung leisten, wenn er einen Lehrgang absolviert“, sagt Moser. Auch die Eltern seien „hochzufrieden“ mit dem bisherigen System. Deshalb appelliert der Bürgermeister an den Bund, das Gesetz flexibler zu gestalten. Auch qualifiziertes angelerntes Personal solle die Betreuung übernehmen können. „Außerdem wäre es für die Kommunen wichtig, Handlungsleitfäden und Umsetzungsrichtlinien zu erhalten“, sagt Moser. 

Engen: Betreuungszeiten müssen noch einmal deutlich ausgeweitet werden

Ein weiterer Kritikpunkt Mosers: Obwohl die Angebote in Engen den Bedarf der Familien abdecken, müsste die Stadt sie laut Gesetz ausweiten. Denn der Rechtsanspruch sieht eine Betreuung an fünf Werktagen und mindestens acht Stunden vor; ebenso gilt er in den Ferien. Höchstens vier Wochen dürfen Schulen demnach geschlossen sein. „An der Grundschule Engen, wo wir eine längere Betreuung anbieten als in Welschingen, erfüllen wir bereits die acht Stunden Betreuung von Montag bis Donnerstag, hier müssten wir unsere Betreuungszeiten allerdings auf den Freitag erweitern“, erklärt Moser. 

Für die Vereine ist ihre Rolle in der Nachmittagsbetreuung essenziell wichtig

Eine offene Frage ist für Engen und andere Kommunen auch die Rolle der Vereine. In Engen spielen sie im aktuellen Modell zusammen mit anderen Kooperationspartnern am Nachmittag eine „ganz zentrale Rolle“, wie Johannes Moser sagt. Die Nachmittagsangebote würden maßgeblich von ihnen mitgestaltet. „Die Frage wird sein, ob die Angebote mit den örtlichen Vereinen weiterhin aufrechterhalten und anerkannt werden können, oder ob ein Parallelangebot mit pädagogischen Fachkräften aufgebaut werden muss“, so Moser. Strukturell und bezogen auf den Gemeinschaftssinn im Ländlichen Raum könnte das einen Verlust bedeuten. „Für die Vereine ist die Tätigkeit in den Grundschulen eine gute Möglichkeit, Mitglieder zu gewinnen und auf ihr Angebot aufmerksam zu machen. Sollte künftig ein Parallelangebot aufgebaut werden müssen, könnte dies natürlich zu rücklaufenden Zahlen in den Angeboten der Vereine führen“, führt Moser aus. 

Moser: „Der Bund ist der Besteller. Wenn er mehr Betreuung bestellt, muss er sie auch bezahlen!“

Zur Debatte steht außerdem die Kostenfrage. „Es liegt auf der Hand, dass die Kosten im Ganztagesbereich steigen, wenn das Angebot ausgedehnt und weiteres Fachpersonal eingestellt werden muss“, erklärt der Bürgermeister. Die Unsicherheit der Finanzierung müsse der Gesetzgeber ausräumen – und zwar im Sinne des Konnexitätsprinzips. „Der Bund ist der Besteller. Wenn er mehr Betreuung bestellt, muss er sie auch bezahlen“, sagt Moser. 

Ebhausen: Die Nachfrage nach Ganztagsbetreuung ist nicht hoch

Auch Kathrin Holder wünscht sich eine Flexibilisierung des Gesetzes. Holder ist Hauptamtsleiterin in Ebhausen, einer knapp 5.000 Einwohner zählenden Gemeinde im Landkreis Calw. Kommunen sollten die Angebote bedarfsgerecht ausgestalten dürfen, findet Holder. Mit ihrer Forderung dürfte sie für viele andere Städte und Gemeinden ähnlicher Größe sprechen. Viele Familien verlangen dort keine Ganztagsbetreuung, organisieren die Betreuung ihrer Kinder privat. Die Zahlen sprechen in Ebhausen für sich. Nur zehn bis 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler nähmen derzeit das Angebot der Ganztagsbetreuung an, sagt Holder. In Ebhausen gibt es eine Schule mit Hort, darüber hinaus einen Kindergarten, in dem nachmittags bis 17 Uhr auch Schulkinder betreut werden. In den Ferien gebe es ein Betreuungsangebot der Ortsjugendpflege. „Damit sind wir aktuell gut aufgestellt“, so Holder.

Holder: Vielen Eltern ist nicht bewusst, dass die Ganztagsbetreuung kostenpflichtig ist 

Dem Rechtsanspruch sieht sie deshalb grundsätzlich entspannt entgegen. Ein echtes Problem sieht sie ebenso wie Johannes Moser in der Reduzierung der Ferien-Schließzeit auf vier Wochen. „Je weniger Schließzeit, desto mehr Personal ist nötig“, sagt Kathrin Holder. Auch hier täte eine bedarfsgerechte Gesetzgebung Not. Sie führt aus: „In den Ferien öffnen wir derzeit nicht acht Stunden am Tag, sondern nur sechs Stunden. In manchen Ferien ist die nötige Anmeldezahl von fünf Kindern gar nicht zusammengekommen, sodass wir gar keine Betreuung angeboten haben.“ Nachsteuern müssten Bund und Land auch in der Kommunikation, findet sie. Ihr Eindruck ist, dass vielen Eltern gar nicht bewusst ist, dass die Ganztagsbetreuung an Grundschulen kostenpflichtig ist. „Das wird von der Politik noch nicht transportiert“, kritisiert sie.  

Renningen: „Der Rechtsanspruch ist für uns eine Black Box"

Ähnlich ist die Lage in Renningen, einer Stadt im Landkreis Böblingen mit mehr als 18.000 Einwohnern. „Der Rechtsanspruch ist für uns eine Black Box, da wir nicht wissen, ob dadurch mehr Kinder in die Betreuung kommen. Wir haben bisher immer bedarfsorientiert ausgebaut. So wie es bisher aussieht, dürfen wir weiterhin Gebühren für die Betreuung verlangen. Dadurch erwarten wir keinen größeren Ansturm als bisher“, sagt Marcello Lallo, Fachbereichsleiter Bürger und Recht. Derzeit bietet die Stadt zusammen mit einem Verein eine flexible Ganztagsbetreuung an, die mit Hilfskräften gestemmt wird. „Eine Umstellung auf Hort ist aufgrund der Vorgaben zur Anzahl von pädagogischem Personal nicht möglich. Es wäre gut, wenn wir weiter mit Hilfskräften wie bisher arbeiten können“, betont Lallo.