Der Windpark Verenaforen trägt einen großen Teil zur Plusenergie-Gemeinde Tengen bei.
© Hegauwind GmbH

„Der Genehmigungsprozess darf nicht länger als ein Jahr dauern“

Tengen ist seit einigen Jahren eine Plusenergie-Gemeinde: Sie produziert mehr Strom, als sie verbraucht. Der ehemalige Bürgermeister Marian Schreier spricht mit die:gemeinde darüber, wie es gelungen ist, die Bürgerschaft von den Strukturprojekten zu überzeugen, und erklärt, wie es gelingen könnte, Genehmigungsverfahren zu verkürzen.

Interview mit Marian Schreier zur Plusenergie-Gemeinde Tengen

die:gemeinde: In Tengen gibt es einen Windpark, zwei Biogasanlagen und einen neuen Solarpark. Wann haben Sie sich auf den Weg in Richtung Plusenergie-Gemeinde gemacht?

Marian Schreier: Die Aufzählung stimmt, aber ist noch nicht vollständig. Darüber hinaus haben wir städtische Gebäude mit PV-Anlagen belegt. Aktuell wird außerdem ein zweiter Windpark projektiert, im Zuge dessen wir in den Jahren 2019 und 2020 eine große Bürgerbeteiligung durchgeführt haben, die in einen Bürgerentscheid mündete. Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger haben dafür gestimmt. Der Windpark befindet sich jetzt im Genehmigungsverfahren. Wir gehen davon aus, dass die Genehmigung im Laufe des Jahres erteilt wird. Die Biogasanlagen sind am ältesten – sie stammen noch aus der Zeit vor mir. 

Bau des ersten Windparks in Tengen (c)Hegauwind GmbH
Bau des ersten Windparks in Tengen (c)Hegauwind GmbH

Jetzt ist Tengen eine Plusenergie-Gemeinde. Der Begriff wird nicht immer einheitlich verwendet. Was verstehen Sie darunter?

Nach meinem Verständnis kann sich eine Gemeinde dann als Plusenergie-Gemeinde bezeichnen, wenn eine Stadt auf ihrer Gemarkung mehr erneuerbaren Strom produziert, als vor Ort verbraucht wird. Mit Verbrauch meine ich aber nicht nur die städtischen Gebäude, sondern auch alle privaten Haushalte und sämtliche gewerbliche Aktivität. Diesen Zustand haben wir bereits seit Inbetriebnahme des ersten Windparks erreicht. Man muss dabei ehrlich sein: Es handelt sich um eine bilanzielle Kenngröße. Schließlich bleibt der Strom ja nicht in der Stadt, sondern wird ins Netz eingespeist oder direkt an bestimmte Abnehmer verkauft wie im Fall unseres Solarparks.

 

Der im vergangenen Sommer eingeweihte Solarpark Berghof, den Sie ansprechen, wird von einem privaten Grundstückseigentümer verpachtet, von einem Solarunternehmen betrieben und der produzierte Strom an ein Unternehmen aus Friedrichshafen verkauft. Was hat die Stadt Tengen überhaupt mit dem Park zu tun und

inwiefern profitiert sie davon?

Sowohl bei der Windkraft als auch beim Thema Freiflächen-Photovoltaik geht es nicht ohne die Stadt, weil sie Baurecht schafft. Den Bebauungsplan haben wir zügig aufgestellt. Wir profitieren einerseits durch die Gewerbesteuer von den Anlagen, andererseits von einer neuen Regelung im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Paragraf 6 besagt, dass Kommunen an der Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien finanziell beteiligt werden. Konkret sind es 0,2 Cent pro Kilowattstunde. Das ist auch vertraglich mit dem Betreiber vereinbart.

Die neue Freiflächen-Photovoltaikanlage trägt einen wichtigen Teil zur Plusenergie-Gemeinde Tengen hinzu. (c)solarcomplex
Otto Preiss (Rolls-Royce Power Systems Friedrichshafen) (v.l.), Marian Schreier (ehemaliger
Bürgermeister von Tengen), Gerhard Weber (Landwirt und Mitbetreiber des Solarparks),
Bene Müller (Solarcomplex), und Frank Lammering (Sparkasse Engen-Gottmadingen)
bei der Einweihung des Solarparks auf dem Berghof Tengen. (c)solarcomplex

Anders als in anderen Kommunen haben Sie bei den Projekten wenig Widerstand aus den Reihen des Gemeinderats und der Bürgerschaft erfahren. Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass das – zumindest oberflächlich betrachtet – so harmonisch ablief?

Da muss man zwischen den beiden Windpark-Projekten unterscheiden. Beim ersten haben der Projektierer und wir als Stadt von Beginn an offen kommuniziert. Bei Windkraftanlagen haben Sie das Problem, dass zwar ein Standort festgelegt wird, dessen Koordinaten sich im Laufe des Genehmigungsverfahrens allerdings noch häufig verändern. Da reden wir nicht von fünf Metern Unterschied, sondern teilweise von hunderten. Das liegt an Beschränkungen durch den Arten- und Naturschutz, an Fragen der Netzanbindung und der Zufahrtswege. Man hat damals auch diese Veränderungen transparent kommuniziert. Das hat dazu geführt, dass die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in den Projektierer und in den Prozess entwickelt haben.

 

Welche Aspekte gab es noch?

Die Eigentümerstruktur des Geländes, auf dem der erste Windpark steht, war eigentlich problematisch. Es gab Dutzende Privateigentümerinnen und -eigentümer, weil es sich abgesehen von einigen größeren städtischen Flächen um einen kleinteiligen Privatwald handelt. Doch viele von ihnen haben sich beteiligt, darunter einige einflussreiche Personen. 

Jeder, der unterschrieben hat, war eine Art Botschafter des Projekts und hatte ein eigenes Interesse an dessen Gelingen – schließlich profitieren die Eigentümerinnen und Eigentümer auch von den Pachteinnahmen. Es gab eine ideelle Motivation innerhalb der Bevölkerung, etwas mit erneuerbaren Energien zu machen. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass sich das Atomkraftwerk Leibstadt in unmittelbarer Nähe auf der schweizerischen Seite der Grenze befindet.

 

Wie sind Sie beim zweiten Windpark vorgegangen?

Da sind wir einen ganz anderen Weg gegangen. Wir haben einen Dialogprozess mit mehreren offenen Veranstaltungen durchgeführt, in dem wir für den Windpark geworben haben, wobei wir sowohl die Vorteile als auch die Nachteile diskutiert haben. Auch Exkursionen zum bestehenden Windpark und in den Stadtwald gehörten dazu. Das Ganze mündete in einen Bürgerentscheid.   

 

Warum haben Sie sich für diese Vorgehensweise entschieden?

Durch diese breite Form der Beteiligung war den Bürgerinnen und Bürgern klar, dass sie es selbst in der Hand haben. Das hat Vertrauen erzeugt. Mit zwei Dritteln gab es dann eine Mehrheit für den Windpark, die für ein Strukturprojekt doch sehr klar ist. Die ideelle Motivation der Bevölkerung war noch einmal größer als beim ersten Projekt, was sicher auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Aufkommen der Freitagsdemonstrationen zu tun hat. 

Zwar gab es auch Widerstand. Doch es ging kein Riss durch die Gemeinde, wie man es von anderen Projekten kennt, weil allen von Beginn an klar war, wie der Prozess abläuft. 

 

Welches Argument für die zweite Anlage wog besonders schwer?

Der Klimawandel hat sich auf unseren tausende Hektar großen Stadtwald bereits sehr sichtbar ausgewirkt. Anhand von Klimadaten kann man nachvollziehen, dass wir einen Temperaturanstieg von einem Grad verzeichnet haben. Unter anderem ist dadurch die Anzahl der Käfer enorm gestiegen. Diese Verbindung herzustellen ist die große Leistung des Dialogprozesses. Die Bürgerinnen und Bürger konnten das abstrakte Phänomen Klimawandel nachvollziehen und gleichzeitig sehen, was wir vor Ort dagegen tun können.

 

Sie haben in der Vergangenheit die langen Genehmigungszeiten und die Behörden kritisiert. Was müsste sich ändern – braucht es eine gesetzlich definierte Höchstdauer für Genehmigungsprozesse?

Zentral ist die Geschwindigkeit, ja. Bislang dauert es sechs bis sieben Jahre, um einen Windpark zu genehmigen. In unserem konkreten Fall sind wir im Herbst 2019 eingestiegen. Jetzt, im Februar 2023, ist der Genehmigungsantrag vollständig. Der Prozess hat sich um eineinhalb Jahre verzögert, weil ein Rotmilan zu viel kartiert wurde und man die Anlagen noch einmal verschieben musste. Alle Gutachten mussten erneuert werden. Wenn wir die Genehmigung in diesem Jahr erhalten, wäre das sogar noch ein schneller Prozess. 



Sehen Sie auch Fortschritte?

Ja. Der Bundestag hat im vergangenen Jahr mit der Verabschiedung des „Osterpakets“ einen großen Schritt gemacht. Aber es muss noch viel mehr passieren. Vor allem im Bereich des Arten- und Naturschutzes gibt es Bedarf. Die Untersuchungszeiträume für die Gutachterinnen und Gutachter sind sehr lang, die Anforderungen rigide. Da müssen wir die Güter noch stärker abwägen und uns fragen, was wir als Gesellschaft priorisieren. Wir müssen an den Punkt kommen, dass die Genehmigung innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Einreichung des Antrags erteilt wird. 

 

Wie kann das gelingen?

Man könnte größere Gebiete zusammenfassen und auf ihnen eine Umwelt-Voruntersuchung durchführen. Wenn sie abgeschlossen ist, könnten alle Standorte dort genehmigt werden, ohne dass noch einmal spezifische Arten- oder Umweltschutzbelange untersucht werden. Solche Ansätze sind auch vor dem Hintergrund der Personalschwierigkeiten wichtig, denn das ist der nächste Flaschenhals.

 

Was meinen Sie konkret? 

Man kann nicht Gutachterinnen und Gutachter für tausende Windräder abstellen, denn die gibt es in Deutschland gar nicht. Eine übergeordnete Prüfung, die die kleinteiligen Prüfungen ersetzt, könnte zur Lösung dieses Problems beitragen. Auch technische Instrumente könnten die Prozesse beschleunigen. Es gibt bereits Anlagen, die Fledermäuse erkennen und die Windkraftanlage automatisch abschalten, sobald sie in der Nähe sind. Auch beim Rotmilan laufen Versuche mit Kameras. 

Es fehlt aber auch eine Genehmigungskultur vor Ort bei den Landräten. Das ist eine Frage der Verwaltungsmodernisierung, die ich für wesentlich halte. Sie können als Gesetzgeber noch so viel vorschreiben – wenn es am Ende von den Behörden nicht umgesetzt wird, ist es wertlos.