Summer of Pioneers und KoDorf im Schloss Blumenfeld des baden-württembergischen Tengen
© Neulandia

Von der Stadt ins KoDorf

Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist das Leben in der Großstadt für viele unattraktiver geworden. Eine Chance für den Ländlichen Raum, auch Bevölkerungsgruppen anzuziehen, die er vorher an die Stadt verloren hat. Diese Chance will die Stadt Tengen beim Schopf packen – mit einem Viertel, das gemeinschaftliches, ökologisches und digitales Leben verspricht.

Von der neuen Landlust ist schon lange die Rede – auch deutlich vor der Corona-Pandemie war der Trend erkennbar. Mondäne Straßenschluchten, die bis zum Horizont und darüber hinaus reichen, glitzernde Glasfassaden, die in den Himmel ragen, und an jeder Ecke ein gemütliches Café, schickes Restaurant, einzigartiges Geschäft oder ein exklusiver Club – diese Sehnsuchtsvorstellung ist für viele Menschen dem Schreckgespenst einer lauten, verschmutzten und anonymen Stadt gewichen. Es drängt sie raus aus den Großstädten.

Hürden auf dem Weg in den Ländlichen Raum

Doch selten kommen sie bei ihrer Suche nach mehr Natur und Nachbarschaftlichkeit über die Speckgürtel hinaus. Dabei gibt es in den ländlichen Räumen deutlich mehr Platz und Natur, geringere Immobilienpreise und häufig ein höheres Gemeinschaftsgefühl. Gerade jetzt, wo die Pandemie das Home-Office in vielen Branchen zur Normalität werden lässt, haben immer mehr Menschen die Möglichkeit, ihren Wohnort unabhängiger vom Standort ihres Arbeitgebers zu wählen. Der Sprung aufs Land fällt vielen Städtern trotzdem schwer. Werde ich in den bestehenden Gemeinschaftsstrukturen aufgenommen werden? Wird es kulturelle und soziale Treffpunkte geben? Funktioniert die digitale Infrastruktur gut genug, um problemlos arbeiten zu können? Werde ich die Möglichkeit haben, auch ohne Auto überall hinzukommen? All das sind Fragen, die die Entscheidung, aufs Land zu ziehen, hemmen können. 

KoDorf: Ländliche Quartiere für Städter neu entwickeln

Das Projekt KoDorf möchte diesen Sorgen entgegenwirken und Städtern gleichzeitig die Dinge bieten, die sie sich vom Leben auf dem Land erhoffen. Die Idee der KoDörfer kommt von der Initiative Neulandia, die neue Lebens- und Arbeitsmodelle in ländlichen Räumen entwickelt, sowie dem Architekturbüro agmm. In Kooperation sollen so ländliche Quartiere entwickelt werden, die sich an den Bedürfnissen von Großstädtern orientieren, die überwiegend ortsunabhängig arbeiten können. Die Viertel sollen gemeinschaftliches Handeln fördern, nach ökologischen Gesichtspunkten geplant werden und ein geregeltes Arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen ermöglichen. Als Neulandia 2018 auf die Suche nach Kommunen ging, die Interesse haben, gemeinsam ein KoDorf aufzubauen, war die 4.700-Einwohner-Stadt Tengen im Hegau eine der ersten, die sich meldete.

Wir wollen die ganze Vielfalt des Wohnens in der ländlichen Region ermöglichen.

Marian Schreier, Bürgermeister der Stadt Tengen

Marian Schreier über das KoDorf in Tengen

2018 konnte das Projekt jedoch zunächst nicht umgesetzt werden. Eine neue Chance für die Zusammenarbeit bot ein weiteres Projekt von Neulandia – der „Summer of Pioneers“. Dabei handelt es sich um ein gemeinschaftliches Probewohnen in ländlichen Kommunen, bei dem die Probewohner auch einen Mehrwert für den jeweiligen Ort schaffen sollen. Bei dem Projekt wohnen Interessierte für sechs Monate in möblierten Wohnungen und bekommen einen Coworking-Space zur Verfügung gestellt. Dafür sollen sie ihre Kompetenzen, die häufig im digitalen und kreativen Bereich liegen, in der vorübergehenden Heimat einbringen. 

Summer of Pioneers - Probewohnen im ländlichen Schloss

In Tengen findet der „Summer of Pioneers“ im spätmittelalterlichen Schloss Blumenfeld statt. Die Pioneers sind dort Mitte Juni eingezogen und bleiben bis Ende des Jahres. „Wir haben schon lange nach einer Nachnutzung für das Schloss gesucht“, erzählt Marian Schreier. „Und für den „Summer of Pioneers“ schien es perfekt geeignet.“ In dem Schloss, in dem bis 2017 ein Altenpflegeheim untergebracht war, bekamen die Pioneers je ein Zimmer, Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftsarbeitsräume. Auch am Leben des Stadtteils nehmen sie teil und haben bereits einiges eingebracht. So haben sie Konzerte veranstaltet, ein Open-Air-Kino und einen Stammtisch ins Leben gerufen. Die Bewerbungsphase für den „Summer of Pioneers“ zeigt, wie beliebt die kleine Stadt ist. Für die 20 Plätze gab es 80 Bewerber. 

Summer of Pioneers als Testlauf für das KoDorf

„Der 'Summer of Pioneers' war für uns ein Testlauf. Es hat sich gezeigt, dass sich dort kein Satellit bildet. Ganz im Gegenteil: Die neuen Bewohner sind in engen Kontakt mit ihren Nachbarn getreten - nicht zuletzt durch die selbst organisierten Veranstaltungen“, freut sich Schreier. Und das Projekt im Schloss hatte einen weiteren positiven Effekt: Neulandia hat seine Pläne für das KoDorf in Tengen noch einmal überdacht und einen für Stadtverwaltung und Initiatoren passenden Weg gefunden.

Wir möchten das Schloss und das Areal Kalkgrube gemeinsam als KoDorf planen. Zwischen beiden liegen knapp zwei Kilometer Strecke. Aber die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass es manchmal auch gut sein kann, eine räumliche Trennung zwischen Arbeit und Leben zu haben. Deshalb finden wir die Distanz sogar vorteilhaft.

Frederik Fischer, Gründer von Neulandia

Frederik Fischer über das KoDorf in Tengen (c)Manuela Clemens

Auf der ehemaligen Industriefläche sollen nun 36 kleine Holzhäuser entstehen. Die gemeinschaftlich genutzten Räumlichkeiten, wo etwa das Coworking und Veranstaltungen stattfinden, werden im Schloss geplant. „Für Veranstaltungen ist es gut, wenn sie nicht direkt an der Wohnbebauung stattfinden“, gibt Fischer zu bedenken. Tengen könnte damit die erste Kommune werden, bei der sich ein KoDorf an einen „Summer of Pioneers“ anschließt. „Vielleicht ziehen sogar einige der Pioniere ins KoDorf“, so Fischer. Dass das KoDorf kommen wird, ist allerdings noch nicht in trockenen Tüchern. „Das Projekt wurde im Gemeinderat vorgestellt und mehrfach beraten. Der Gemeinderat hat auch das Projekt grundsätzlich gutgeheißen. Eine endgültige Abstimmung darüber soll Ende des Jahres erfolgen“, erzählt Bürgermeister Schreier. Bauherrin der KoDörfer ist die Dachgenossenschaft VielLeben eG. Das passt gut zum Plan der Stadt, das Grundstück nicht zu veräußern, sondern in Erbpacht an gemeinwohlorientierte Träger zu vergeben. Interessierte müssen 30 Prozent des Kaufpreises über Eigenkapital finanzieren und können die restlichen 70 Prozent über einen langen Zeitraum als Wohngeld abbezahlen. „So möchten wir unter anderem ausschließen, dass das Grundstück zum Spekulationsobjekt wird.“ 

Tengener können sich an Gestaltung des KoDorfs beteiligen

Auch die Bürger sollen sich bei der Planung einbringen können. Ein Beteiligungsprozess ist Ende Oktober mit einer ersten Informationsveranstaltung gestartet. „Das Interesse war sehr groß“, berichtet Fischer. „Die Stadthalle war voll. 150 Bürger waren gekommen, um mehr über das KoDorf zu erfahren.“ Nach der Informationsveranstaltung hatten Bürger zudem die Möglichkeit, sich zwei Wochen lang über ein Online-Forum mit Fragen und Ideen zu beteiligen. „Insgesamt war das Feedback sehr positiv. Aber wir haben die Bürger auch spezifisch dazu aufgerufen, uns ihre Sorgen zu nennen“, so Fischer. Zwei Sorgen kristallisierten sich dabei heraus. Zum einen sei die Nachfrage nach Einfamilienhäusern hoch. Verschiedene Bürger fragten sich, warum man diese nicht stattdessen befriedige. Hier verweist Schreier jedoch auf die Vielfalt der Wohnformen, die es in der Stadt geben soll: „In Tengen gibt es auch weiterhin die Möglichkeit, klassische Eigenheime zu bauen. Das eine schließt das andere nicht aus.“ Eine weitere Sorge war die Angst, dass das KoDorf eine Blase inmitten der gewachsenen Stadt wird. Schreier und Fischer sind sich allerdings einig, schon der „Summer of Pioneers“ habe gezeigt, dass das Interesse, sich einzubringen und Gemeinschaft zu leben, groß ist. „Außerdem halte ich die Gefahr, dass man sich nicht in die Gemeinschaft einbringt, bei einem klassischen Neubaugebiet mit Einfamilienhäusern für höher“, sagt Fischer.

KoDorf-Projekte auch in Wiesenburg und Erndtebrück

Stimmt der Gemeinderat dem Projekt zu, soll es weitere Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürger geben. So soll etwa ein Projektbeirat gegründet werden, der sich aus Kommunalpolitikern, Nachbarn und Bewohnern des KoDorfs zusammensetzt. Sollte es grünes Licht für das Projekt geben, wird es trotzdem eine Weile dauern, bis die ersten Interessierten einziehen können. Anträge für Umnutzung und Bebauung brauchen einige Zeit, wie Frederik Fischer aus Erfahrung sagen kann. Das erste KoDorf-Projekt ist 2018 im brandenburgischen Wiesenburg gestartet, das zweite 2020 im nordrhein-westfälischen Erndtebrück. Während die Planung schon weit fortgeschritten ist, konnte bisher noch kein Gebäude gebaut werden. „Die Navigation durch alle baurechtlichen Belange ist sehr zäh“, erzählt Fischer. „Mittlerweile sind wir aber schon weit gekommen und ich gehe davon aus, dass wir Anfang nächsten Jahres mit dem Bau beginnen können. Ich rechne damit, dass die ersten Interessenten in zwei bis drei Jahren einziehen.“