Interview mit Ryyan Alshebl über die Änderungen, die in der Migration nötig sind
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Ryyan Alshebl: „Wir behandeln Migration wie eine Krise, die in ein paar Monaten vorbeigeht“

Selbst vor neun Jahren aus Syrien nach Deutschland geflüchtet und seit letztem Jahr Bürgermeister von Ostelsheim – Ryyan Alshebl kennt beide Seiten von Migration und Integration. Im Interview erzählt er davon, was sich in den letzten Jahren verändert hat und was sich in den nächsten Jahren verändern muss.

die:gemeinde: Herr Alshebl, denken Sie, dass Sie eine andere Herangehensweise an die Themen Migration und Integration haben, weil Sie selbst diese Erfahrung in den letzten neun Jahren gemacht haben?

Ryyan Alshebl: Ich denke schon, dass ich einen anderen Umgang mit Migration und Integration habe. Schon allein, weil viele der Geflüchteten bei uns in Ostelsheim auch aus Syrien kommen. Wir haben keine Sprachbarrieren und ähnliche Erfahrungen gemacht. Man hat eine gemeinsame Ebene und weniger Hürden. 

Ryyan Alshebl, Bürgermeister der Gemeinde Ostelsheim
Ryyan Alshebl, Bürgermeister von Ostelsheim (c)Gemeinde Ostelsheim

Das heißt, Sie haben regelmäßig Kontakt mit den Geflüchteten in Ihrer Gemeinde?

Ja klar, in einer kleinen Gemeinde ist der Bürgermeister viel greifbarer als in einer großen Stadt. Meine Bürotür steht für die Menschen in Ostelsheim immer offen. Natürlich bin ich nicht Integrationsbeauftragter und das ist nicht meine erste Aufgabe, aber wenn Menschen, die geflüchtet sind oder andere Migrationserfahrungen haben, zu mir kommen, setze ich mich mit ihren Sorgen auseinander. Genau wie bei allen anderen Menschen, die zu mir kommen. 

Sehen Sie Veränderungen im Bereich Migration, seit Sie nach Deutschland gekommen sind?

Der Hauptunterschied, den ich zwischen heute und 2015 sehe, ist die Bereitschaft in der Bevölkerung und das Gemeinschaftsgefühl – die sogenannte Willkommenskultur. Die Leidenschaft mit der früher Hilfe geleistet wurde, findet man heute nicht mehr in dem Maße. Es herrscht ein Gefühl von Überforderung mit den Flüchtlingszahlen. 

Ein Problem ist auch, dass viele der Flüchtlingshelfer, die sich 2015 gemeldet haben, damals schon im Rentenalter waren. Langsam können sie nicht mehr und es kommen zu wenige Freiwillige nach. 

Was denken Sie, müsste sich verändern?

Wir brauchen eine generelle bundesweite Diskussion darüber, wie wir Migration sinnvoll gestalten können. 

Wie wir die Leistungsfähigkeit des Staates so erhöhen können, dass Kitas, Schulen, Integrationskurse und vieles mehr nicht von den Ankommenden überfordert werden. Es wäre wichtig, bessere Möglichkeiten zu schaffen, Asyl zu suchen. So dass Menschen die Chance kriegen, mit einem Visum sicher nach Deutschland zu kommen. Nicht wie ich damals. Dann wäre die Menge der Menschen, die Asyl suchen, für uns auch besser und früher planbar. 

Wie sieht es denn mit der Unterbringung von Geflüchteten in Ostelsheim aus?

Dieses Jahr ist unser Soll in Ostelsheim, 25 Geflüchtete aufzunehmen. Es gäbe zwar genügend leerstehenden Wohnraum, um das zu realisieren, aber wir können die Eigentümerinnen und Eigentümer nicht davon überzeugen, diesen Wohnraum auf den Markt zu geben. 

Und wie lösen Sie das Problem?

Wir haben dem Landkreis angeboten, eine Gemeinschaftsunterkunft auf unserer Gemarkung zu bauen. Der Landkreis war begeistert von dem Vorschlag und ein geeigneter Bauplatz war auch schnell gefunden. Nun stellte sich aber heraus, dass dort der bedrohte Feuersalamander lebt. 

Um trotzdem bauen zu dürfen, müssen wir verschiedene Untersuchungen durchführen lassen und dann eine Sondergenehmigung beim Regierungspräsidium beantragen. Das verzögert das Vorhaben mindestens um einige Monate. Wann das alles fertig sein wird, ist die spannende Frage. Denn von den 25 Geflüchteten, die wir dieses Jahr aufnehmen sollten, haben wir durch dieses Problem bisher null aufgenommen. Und aus dem letzten Jahr haben wir auch schon ein Minus. 

Wie bewerten Sie diese Hürde?

Aus meiner Sicht müssen die Prioritäten hier ganzu neu überdacht werden. Wegen ein paar Feuersalamandern können wir Menschen nicht den Wohnraum bieten, den sie dringend benötigen. Das ist am Ende in niemandes Interesse. 

Und wie läuft es mit den Integrationskursen bei Ihnen vor Ort?

Integrationskurse werden hier in Ostelsheim über die Volkshochschule organisiert. Als ich mich selbst im Jahr 2015 für einen Integrationskurs angemeldet habe, musste ich drei Wochen warten. Heute haben wir bei der VHS eine durchschnittliche Wartezeit von einem Jahr. Und wir sind hier ja nicht in der Großstadt. 

Wie kommt es, dass sich die Wartezeiten so erhöht haben, wo in diesem Jahr viel weniger Geflüchtete gekommen sind?

Das Hauptproblem ist, dass man die Sprachschulinfrastruktur besser und nachhaltiger hätte ausbauen müssen. Und wir müssten bessere auf ehrenamtliche Strukturen zugreifen können. Zum Beispiel sind die Anforderungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an die Lehrkräfte für Integrationskurse viel zu hoch. Es müssen keine Akademikerinnen und Akademiker sein, die den Geflüchteten Deutsch beibringen.

Wieso wurde die Infrastruktur nicht ausreichend ausgebaut?

Mit Migration wird hierzulande umgegangen, als ginge es um eine Krise, die in ein paar Monaten vorbei sein wird. Deshalb kommen wir nie aus dem Reaktionsmodus raus. 

Was müssten Bund und Land tun, um die Kommunen bei der Integration besser zu unterstützen?

Es geht natürlich nicht nur um finanzielle Mittel. Aber gerade die sind bei den Kommunen in den letzten Jahren immer zu knapp. Gleichzeitig ist die Fülle der Pflichtaufgaben sehr groß. Das führt zu Ärger bei den Kolleginnen und Kollegen. Und das ist auch legitim. Da müssten Bund und Land uns K0mmunen stärker unterstützen. 

Und Richtlinien und Anforderungen müssen, wie gesagt, runtergeschraubt werden, damit wir bessere ehrenamtliche Strukturen schaffen können.

Wie können wir Integration sonst noch unterstützen?

Wir müssen Integration in unserer Gesellschaft neu denken. Integration kann nicht bedeuten, dass wir warten, bis jemand perfekt Deutsch spricht und vorher ist die Person auf sich allein gestellt. 

Ich erinnere mich daran, wie ich mich beim Jobcenter gemeldet habe, um eine Arbeit zu finden. Da habe ich gelernt, wie schwer es ist, einen Job zu bekommen, wenn man die Sprache noch nicht richtig spricht. Aber das braucht Zeit. Deshalb müssten wir uns Modelle überlegen, die beim Einstieg in den Beruf helfen, auch bevor man perfekt Deutsch spricht.

Haben Sie da Ideen?

Es gibt viele Rentner, die Geflüchtete gerne in ihrem Beruf an die Hand nehmen. Man könnte sie jenen, die in einen neuen Job starten, als Integrations-Coaches zur Seite stellen, um in dem Tempo, das für beide möglich ist, einzusteigen.