
Gelingt der Ganztag?
Ab dem Schuljahr 2026/27 gilt ein bundesweiter Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, beginnend mit den Erstklässlern. Bis 2029/30 soll er schrittweise auf alle Klassenstufen ausgeweitet werden. Für Kommunen bedeutet das eine große Herausforderung – vor allem in Sachen Personal und die Bereitstellung der Räumlichkeiten.
Der Gemeindetag Baden-Württemberg hatte vor einem zu schnellen Inkrafttreten des Anspruchs gewarnt und eine bessere Finanzierung angemahnt. Inzwischen haben Bund und Land Investitionsmittel zugesagt, darunter 861 Millionen Euro vom Land. Dennoch bleiben vor Ort Unsicherheiten – vor allem wegen laufender Betriebskosten, Personalmangel und komplexer Förderbedingungen. Zudem überfordert der Eigenanteil bei Investitionen viele Kommunen.
Trotz dieser Bedenken hält die Politik am Zeitplan fest. Bundesfamilienministerin Karin Prien kündigte im Mai eine Verlängerung des Investitionsprogramms „Ganztagsausbau“ bis 2029 an, um mehr Planungssicherheit zu schaffen. Ziel sei es, mehr Betreuungsplätze, bessere Qualität und mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen.
In Baden-Württemberg hat das Kultusministerium zudem ein neues Leitbild Ganztag veröffentlicht. Es soll als Orientierungsrahmen für Schulen, Träger und Kommunen dienen und betont die ganzheitliche Förderung der Kinder, lässt allerdings die Finanzierung gänzlich unbeleuchtet. Klar ist: Ab 2026 drohen rechtliche Konsequenzen, wenn Kommunen dem Anspruch nicht gerecht werden. Wobei sich der Rechtsanspruch gegen die Stadt- und Landkreise als Träger der Kinder- und Jugendhilfe richtet.
Die Vorbereitungen laufen in den meisten Gemeinden daher auch bereits. Drei Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben uns berichtet, wie sie den Ganztagsanspruch angehen. Dabei zeigt sich: Die Umsetzung des Rechtsanspruchs erfordert bestimmte Rahmenbedingungen und bedeutet eine enorme Kraftanstrengung für die Kommunen.
Enzklösterle & Seewald: Interkommunaler Schulterschluss
„Wir hatten das Glück, mit der Festhalle direkt neben der Grundschule eine ideale Infrastruktur zu haben, die unter der Woche nicht benötigt wird – groß, mit Küche, vielseitig nutzbar“, erklärt Sabine Zenker. Sie ist die Bürgermeisterin der Schwarzwaldgemeinde Enzklösterle im Landkreis Calw mit 1.300 Einwohnerinnen und Einwohnern.
In der Festhalle findet schon heute die Schulkindbetreuung „Heidelbärchen“ statt, mit einem Angebot, das über den Rechtsanspruch hinausgeht. Eingerichtet sind hier Spiel- und Leseecken. Die ganztägige Betreuung erfolgt von Montag bis Freitag stets mit frisch zubereitetem Mittagessen. Zum Programm gehören eine Hausaufgabenhilfe sowie ein wechselndes pädagogisches Zusatzprogramm – von Experimentiertagen über Naturprojekte bis hin zu einem geplanten eigenen Schulgarten an der Festhalle.
Sabrina Zenker und Dominic Damrath.
Die Betreuung orientiert sich eng am Stundenplan der Grundschule. Geleitet wird das „Heidelbärchen“-Team von einer ausgebildeten Tagesmutter, unterstützt von bei der Gemeinde geringfügig Beschäftigten. In erster Linie sind das laut Zenker engagierte Gemeindemitglieder. Der Mittagstisch wird von gastronomisch geschultem Personal gekocht, das auch bei der Kommune angestellt ist. Das Essen gehört zugleich zum pädagogischen Konzept. „Die Kinder kaufen auch mal selbst beim Dorfladen ein oder kochen gemeinsam – das ist ganzheitliches Lernen mit Alltagskompetenz“, erklärt Zenker. Auch eine Ferienbetreuung wird in Enzklösterle angeboten.
Genutzt wird die Betreuung aber nicht nur von der Grundschule in Enzklösterle. Weil die rund zehn Kilometer entfernte Nachbargemeinde Seewald weder über ausreichend Räume noch Personal für den Ganztag verfügte, tat sich ihr Bürgermeister Dominic Damrath mit Zenker zusammen. Die Lösung: Seewald hat eine Busverbindung nach Enzklösterle für die Schulkinder beantragt.
„Das war eine klassische Win-win-Situation“, so die Rathauschefin. „Wir erreichen eine bessere Auslastung und Seewald muss keine Doppelstruktur aufbauen.“ Beide Gemeinderäte stimmten dem Modell einstimmig zu, ein einfacher öffentlich-rechtlicher Vertrag regelt die Zusammenarbeit. „Ich finde es wirklich klasse, dass die Zusammenarbeit mit Seewald so gut funktioniert und die Synergien so gut genutzt werden können“, betont Zenker.
Finanziell ist das Modell der Ganztagsbetreuung für die Gemeinde dennoch eine Herausforderung, trotz des Elternbeitrags für die Betreuung. „Für den laufenden Betrieb gibt es bislang keinen ausreichenden Zuschuss – das kann eigentlich nicht sein“, kritisiert die Bürgermeisterin. Auch die fehlende Mindestgrenze in der Ferienbetreuung ist für sie problematisch.
In Sachen Finanzierung hatte die Gemeinde aber auch eine zusätzliche Idee, die zugleich den gesellschaftlichen Austausch in der Gemeinde stärkt: Wer möchte, kann gegen einen Beitrag das Essensangebot der Betreuung mitnutzen. „Das ist besonders für Seniorinnen und Senioren und Alleinstehende interessant“, erklärt Zenker. So begegnen sich ganz nebenbei Jung und Alt im Rahmen der Ganztagsbetreuung.
Gemmrigheim: Flexible Testphase
„Wir wollten bewusst ein Jahr früher starten, um uns noch ein paar Freiheitsgrade zu sichern – bevor der Rechtsanspruch alles festzurrt“, sagt Jörg Frauhammer, der Bürgermeister der Gemeinde Gemmrigheim im Landkreis Ludwigsburg mit knapp 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Die räumlichen Voraussetzungen für die Ganztagsbetreuung waren laut Frauhammer günstig: Weil es sich bei der Schule früher um eine Haupt- beziehungsweise Werkrealschule handelte, verfügt die Gemeinde über ausreichend Platz, inklusive einer bestehenden Mensa – größere Investitionen seien zumindest aktuell nicht nötig. Das Konzept wurde schon erarbeitet. Die detaillierte Ausgestaltung läuft gerade.
Der Gemmrigheimer Gemeinderat entschied sich für eine sogenannte „Wahlform“ der Ganztagsschule, mit drei Tagen verpflichtendem Nachmittagsunterricht und freiwilliger Betreuung an den übrigen Tagen. Die angebotene Betreuung umfasst werktags Zeiten von sieben Uhr morgens bis 16:30 Uhr. Montag, Dienstag und Donnerstag findet der Nachmittagsunterricht statt, der Teil des schulischen Ganztagsangebots ist. Die Schulzeit endet an diesen Tagen um 15:20 Uhr.
Ein zentraler Beweggrund für dieses Modell sei laut Frauhammer unter anderem die Rücksicht auf das rege Vereinsleben im Ort sowie eine oft zurückhaltendere Nachfrage nach ganztägiger Betreuung im ländlichen Raum. „Es war ein Kompromiss: ein gutes Angebot schaffen, aber die Nachfrage realistisch im Blick behalten“, so der Bürgermeister.
Um dieses Modell auszugestalten, zeigte die örtliche Grundschule laut des Rathauschefs von Beginn an große Eigeninitiative. „Die enge Abstimmung zwischen Schulleitung und Kommune hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Modell frühzeitig auf stabile Beine gestellt werden konnte.“
Bürgermeister Jörg Frauhammer.
Es ist vorgesehen, die bestehende Kernzeitbetreuung schrittweise auslaufen zu lassen: Die Betreuung für die Klassen 2 bis 4 bleibt vorerst bestehen. Um Familien entgegenzukommen, die kein umfassendes Ganztagsangebot benötigen, wurde die Früh- und Mittagsbetreuung auch für Schülerinnen und Schüler geöffnet, die das Ganztagsangebot in der jeweiligen Jahrgangsstufe nicht nutzen. Die Ferienbetreuung kann von allen Schülerinnen und Schülern genutzt werden.
In dem Konzept sollen örtliche Vereine und weitere Partner wie zum Beispiel die Musikschule eingebunden werden. „Ein Verein hat sich schon verbindlich erklärt, andere zeigen Interesse – das Probejahr hilft uns, weitere ins Boot zu holen“, berichtet Frauhammer.
In finanzieller Hinsicht sieht der Bürgermeister die Umsetzung derzeit entspannt: „Der finanzielle Mehraufwand ist da, aber unterm Strich könnte das finanziell am Ende sogar positiv für uns ausgehen. Wir haben bereits eine Kernzeitenbetreuung, die schon sehr viel Geld kostet. Jetzt wird ein Teil dieser Betreuung für die Ganztagsschule vom Land übernommen.“ Für die kommunalen Angebote sei eine Elternbeteiligung vorgesehen.
Römerstein: Warten auf den Schulneubau
„Eine familienfreundliche Bildungsinfrastruktur gehört für mich zur Basis eines funktionierenden Gemeinwesens“, sagt Anja Sauer, die Bürgermeisterin der Gemeinde Römerstein im Landkreis Reutlingen mit 4.350 Einwohnerinnen und Einwohnern. Sie betont aber zugleich, wenn der Staat einen einklagbaren Rechtsanspruch schaffe, muss er ihn auch mitfinanzieren.
Derzeit ist die Betreuung von Grundschulkindern in Römerstein noch auf zwei Grundschulstandorte verteilt. Die Organisation erfolgt zweigleisig: Ein Förderverein übernimmt die sogenannte Kernzeitbetreuung, die die Betreuung am Vormittag vor und nach dem Unterricht abdeckt. Ergänzt wird dieses Angebot durch eine kommunale Betreuung, die Mittagessen sowie eine Hausaufgabenhilfe umfasst und mit gemeindeeigenem Personal organisiert wird.
Eine Ganztagsbetreuung kann jedoch laut Sauer in den jetzigen Schulstandorten nicht zufriedenstellend stattfinden. Die räumlichen Bedingungen seien dafür nicht ausreichend: „Die Betreuung in einem unserer Teilorte passiert derzeit in einem einzigen Klassenzimmer – dort wird gegessen und gespielt. Das entspricht längst nicht mehr heutigen Standards“, so die Bürgermeisterin. Generell fehle es wegen des baulichen Zustands der Grundschulgebäude an „elementaren Voraussetzungen“ für eine rechtssichere Umsetzung des Ganztags.
Bürgermeisterin Anja Sauer
Die Gemeinde arbeitet jedoch bereits an einem Zukunftsprojekt: der Neubau einer neuen zweizügigen Grundschule. Diese soll dann auch die Grundlage für ein flexibles Ganztagsangebot bieten. Eine Machbarkeitsstudie liegt vor, als künftiger Standort ist der Teilort Böhringen im Gutachten genannt – dort befindet sich bereits die Gemeinschaftsschule, mit der sich pädagogische und organisatorische Synergien ergeben.
Der Zeitplan ist jedoch langfristig: Mit dem Einzug in den Neubau rechnet Bürgermeisterin Sauer frühestens bis 2028. „Wir bauen nicht nur ein neues Gebäude, wir schaffen eine moderne Struktur, die auf die Bedarfe unserer Gemeinde zugeschnitten ist“, sagt Sauer. Für die Realisierung des Schulbaus erwarte die Gemeinde Förderzusagen. „Wir kämpfen ja schon darum, unsere Kernhaushalte zu finanzieren“, unterstreicht sie. Daher sei es aus ihrer Sicht völlig unrealistisch, zusätzlich noch Ganztagsstrukturen aus eigener Kraft zu stemmen.
Dabei hat eine Elternumfrage in Römerstein bereits vor zwei Jahren gezeigt: Der Bedarf an Ganztagsbetreuung wächst – allerdings nicht flächendeckend. Aktuell nutzen rund 25 Prozent der Kinder in Römerstein das bestehende Betreuungsangebot. Langfristig rechnet die Gemeinde mit etwa 60 Prozent.