Wie sieht Tourismus in Baden-Württemberg in Zukunft aus?
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Tourismus: Wie Megatrends zu neuen Bedürfnissen führen

11. April 2023
Kaum etwas konnte in den letzten Corona-Jahren so schlecht ausgelebt werden wie die Reiselust. Und kaum etwas wird in der nahen Zukunft deshalb so stark nachgeholt werden – trotz Inflation und hoher Energiekosten. Die deutsche Tourismusbranche verzeichnet Rekordbuchungen. Die Menschen wollen verreisen. So weit, so gut. Doch nichts ist so gefährlich wie der Erfolg. Er führt dazu, so weiterzumachen wie gehabt. Doch das wird nicht funktionieren. Die Tourismusindustrie muss sich in vielen Bereichen neu erfinden. Denn die Zeiten ändern sich – und das grundlegend. Wir stehen an einem Scheideweg, sagt unser Gastautor Andreas Steinle.

Die Bank of America hat für die Dekade der 2020er-Jahre einen treffenden Begriff gefunden: „Age of Peak“. Wir haben in vielen Bereichen den Peak, den Gipfel, erreicht. Von da an geht es nicht mehr höher. Das klingt abstrakt, wird jedoch schnell konkret. Ein Beispiel: Die globale Textilindustrie produziert jährlich 100 Milliarden Kleidungsstücke -– bei wohlgemerkt acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Wer zum Teufel soll das Zeug denn tragen? Drei Viertel der produzierten Waren landet auf Deponien oder wird verbrannt. Weltweit werden 17 Prozent der Lebensmittelproduktion weggeworfen. In Deutschland ist es sogar fast ein Drittel. Die Autos werden größer und schneller, stehen aber zunehmend im Stau. Wir sollten den Gedanken zulassen, dass ein „Mehr“ nicht immer ein „Besser“ bedeutet. Zu unserem eigenen Wohl und Glück sollte das Augenmerk auf einer neuen Balance liegen – mit dem Fokus auf das, was sinnvoll ist. Das gilt auch für das Reisen und die Tourismusindustrie.

Der Megatrend Neo-Ökologie hat konkrete Folgen für den Tourismus

Wer verstehen will, was die künftigen Richtungsänderungen sind, muss von einer Satellitenperspektive auf die Welt blicken. Hierbei hilft es, sich die aktuellen Megatrends anzuschauen. Der wohl mächtigste ist der Megatrend Neo-Ökologie, also die Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft entlang von Nachhaltigkeitsaspekten. Diese Dekade ist die entscheidende, um die Erderwärmung noch in Schranken halten zu können. Entsprechende Gesetze und ein allgemeiner Wertewandel werden grünes Denken zur vorherrschenden Norm machen. So läutet der Megatrend Neo-Ökologie die Abkehr vom „Age of Peak“ ein: weniger wegwerfen, lokaler wirtschaften, in Kreisläufen denken. Für einen Hotelier bedeutet das ganz konkret: Nicht das größte Buffet ist das beste, sondern jenes, das die Lebensmittelverschwendung am besten reduziert. Die Gäste begreifen – und wertschätzen – das.

Andreas Steinle über die Zukunft des Tourismus (c)Peter Jülich
Andreas Steinle ist Geschäftsführer von Zukunftsinstitut Workshop (c)Peter Jülich

Nachhaltigkeit wird Treiber der Innovation

Entscheidend ist, dass diese Veränderungen nicht als Verzicht wahrgenommen werden. Das müssen sie de facto auch nicht sein. Die bewusste Begrenzung des Angebots erleichtert die Entscheidungsfindung beim Gast. Das Kochen mit frischen, lokalen Zutaten steigert den Genuss. Und wenn wir erst einmal das Fleisch aus Zellkulturen züchten, dann kann auch das Steak ohne Öko-Scham genossen werden. In Singapur gibt es hierfür bereits die rechtliche Zulassung und eine erste industrielle Fertigung von dem sogenannten Cultured Meat. Nachhaltigkeit wird künftig zum Treiber von Innovation. Dafür müssen wir uns aber nicht gleich ins Labor begeben. 

Cow-Watching statt Whale Watching

Die Natur bietet noch so viel Entdeckungspotenzial und eröffnet gerade für touristische Anbieter im Ländlichen Raum Potenziale. Hierzu ein Blick über den Tellerrand: Die Küstenfischerei in Mecklenburg-Vorpommern liegt aufgrund von Fangquoten und Verboten im Niedergang. Deshalb soll der Beruf des Fischers neu erfunden werden – als Sea-Ranger, eine Art Förster des Meeres, der neben Bestandspflege auch Tourismusangebote macht. Die Pflege des kulturellen Erbes kann auch in landwirtschaftlich geprägten Regionen einen großen Stellenwert einnehmen: Cow Watching statt Whale Watching. Die Fridays for Future-Generation stellt neue Ansprüche an den Tourismus.

Individualisierung: Brücke zwischen Gästen und Einheimischen bauen

Überhaupt sollten wir davon wegkommen, die Bedeutung einer Stadt oder Gemeinde über ihre Attraktionen zu definieren. Habe ich wirklich Paris kennengelernt, wenn ich drei Stunden in einer Schlange vor dem Eiffelturm stand? Wie bereichernd ist im Vergleich dazu der Austausch mit einem Einheimischen in einem typisch französischen Bistro. Gerade in Zeiten der Individualisierung ist nichts so kostbar wie die Erfahrung von Gemeinschaft. Doch hierfür müssen Reisende sich Zeit nehmen und in das Alltagsleben einer Destination eintauchen können. Diese Brücken herzustellen – zwischen Gästen und den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Ortes - wird zu einer zentralen Aufgabe im Tourismus-Management. In seinem Buch „How to be a better tourist“ gibt der Kulturschaffende Johan Idema den guten Rat, Menschen bei ihrer Arbeit zu begleiten, um einen Ort wirklich kennenzulernen: zum Beispiel mit der Müllabfuhr mitfahren. Klingt erst einmal schräg – und zugleich unglaublich interessant. 

Die Zeiten ändern sich und so auch die Bedürfnisse von Reisenden. Sie sammeln keine Souvenirs mehr, sondern sinnvolle Erfahrungen.