
„Es braucht Mut und Geduld für nachhaltigen Erfolg“
Der Tourismus in Baden-Württemberg erlebt einen Boom. Im Jahr 2024 begrüßte das Land laut Statistischem Landesamt mit 23,8 Millionen so viele Gästeankünfte wie nie zuvor, rund 12 Millionen davon kamen aus dem Ausland. Auch die Zahl der Übernachtungen stieg mit fast 60 Millionen im Jahr auf einen neuen Rekordwert.
Christian Buer ist Professor für Hotel- und Tourismusmanagement an der Hochschule Heilbronn. Er berät regelmäßig Kommunen und Unternehmen und gilt als einer der profiliertesten Experten im deutschen Tourismus. Im Interview mit die:gemeinde erklärt er, wie Kommunen vom Aufwind der Branche profitieren können und worauf sie achten sollten, wenn sie sich touristisch aufstellen wollen.
die:gemeinde: Lieber Herr Buer, 2024 war ein Rekordjahr für die Tourismusbranche im Land. Was sind die Gründe dafür?
Christian Buer: Zunächst einmal ist es hier wichtig, den Begriff Tourismus nicht ausschließlich mit Freizeittourismus zu verbinden. Auch Geschäftsreisen sowie Reisen zu Tagungen und Messen gehören dazu. In diesem Segment ist Baden-Württemberg traditionell stark aufgestellt, insbesondere in wirtschaftsstarken Regionen wie Heilbronn oder Stuttgart. Dazu kommt, dass das sogenannte bodengebundene Reisen, insbesondere im Bereich der Kurzurlaube, bereits seit rund zehn Jahren an Bedeutung gewinnt. Nach der Pandemie gab es zwar eine Phase, in der viele Menschen wieder in die Ferne wollten, doch durch die Inflation und das zuletzt gesunkene verfügbare Nettoeinkommen erleben Reisen mit dem Auto, Zug oder Fahrrad aktuell wieder einen klaren Aufschwung.
Und hier punktet Baden-Württemberg mit seinen schönen Landstrichen?
Genau, Baden-Württemberg bringt durch seine natürlichen Gegebenheiten etwa beste Voraussetzungen für aktivtouristische Angebote wie Wandern und Radfahren mit. Die Zahl der Freizeitmöglichkeiten ist in diesem Bereich deutlich gestiegen. Durch den E-Bike-Boom ist Radfahren altersunabhängiger geworden und hat neue Zielgruppen für Aktivurlaube erschlossen. Regionen wie der Schwarzwald, die Schwäbische Alb oder die Hohenlohe bieten dafür ein nahezu ideales Umfeld. Das zeigt sich an der wachsenden Zahl von Kurzurlauben und Tagesausflügen. Beliebt sind diese besonders bei Paaren ohne Kinder oder Familien, die gerne mal ein verlängertes Wochenende in der Natur verbringen. Ein weiterer Vorteil der Branche im Land ist die Nähe zur Schweiz: Entlang der Grenze gibt es beispielsweise hochpreisige Hotels, die am Wochenende zu fast 100 Prozent mit Gästen aus der Schweiz belegt sind. Für Schweizer gilt Urlaub in Baden-Württemberg als Schnäppchen.
Der Tourismus im Land wird also wirtschaftlich immer bedeutender?
Ökonomisch bedeutsam war er für Baden-Württemberg schon immer. Tourismus hat wirtschaftlich eine wichtige strukturelle Rolle, denn er ist kleinteilig und hat dadurch den Vorteil, dass auch kleine Unternehmen die Möglichkeit haben, Geschäftsfelder um ihn herum aufzubauen. Das heißt, die Branche ist dienstleistungsintensiv und schafft so standortgebunden viele Arbeitsplätze, beispielsweise im Gastgewerbe. Besonders relevant ist er für Regionen außerhalb der klassischen Industriezentren. Es geht hier zwar nicht um das Hochlohnsegment – der Tourismus ist keine SAP. Aber der Vorteil liegt im Standortprinzip: Die Menschen leben und arbeiten dort, wo der Tourismus stattfindet.
Wie können Kommunen vom Tourismusboom profitieren, und welche Bedingungen müssen sie schaffen, um das Entwicklungspotenzial der Branche zu fördern?
Um Tourismus erfolgreich zu erschließen, muss eine Kommune oder Region zunächst ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie eine Gastgeberrolle übernehmen möchte. Das gilt es zu tun, bevor touristische Projekte wie neue Sehenswürdigkeiten umgesetzt werden. Man sollte vorher sicherstellen, dass eine grundlegende Infrastruktur vorhanden ist, insbesondere im Bereich Beherbergung und Verpflegung. Dienstleistern aus diesen Branchen muss signalisiert werden: „Hier bist du willkommen. Hier wirst du gefördert.“ Dabei geht es nicht nur darum, Raum zur Verfügung zu stellen, sondern gezielt Rahmenbedingungen zu schaffen, die Ansiedlung und unternehmerisches Engagement erleichtern. Beispielsweise gibt es Kommunen, die kleinen Einzelgastronomen die Möglichkeit gegeben haben, nahezu mietfrei Flächen zu nutzen und Ideen zu entwickeln. So kann ein attraktives Umfeld geschaffen werden, das häufig ganz automatisch dafür sorgt, dass weitere Hotels oder Gastronomiebetriebe nachziehen. Wichtig ist auch, die Einheimischen bei der Frage „Wie werde ich touristisch attraktiv?“ mit einzubeziehen, damit eine nachhaltige Dynamik und echte Willkommenskultur entstehen kann.
Touristen interessieren sich nicht für Verwaltungsgrenzen, sie wollen ein Erlebnis. Deshalb müssen Regionen zusammenarbeiten.
Was empfehlen Sie Städten und Gemeinden zudem, etwa denen, die sich bislang wenig mit dem Thema Tourismus beschäftigt haben?
Ich empfehle stets: Lassen Sie eine Tourismuspotenzialanalyse machen. Das muss gar nichts Großes oder Kompliziertes sein, sondern sollte ganz praktisch aufzeigen, was Ihre Region überhaupt zu bieten hat, welche Zielgruppen Sie ansprechen können – und wie man daraus Angebote entwickelt. So eine Analyse kann zum Beispiel über Hochschulen wie unsere in Heilbronn laufen, aber auch über externe Dienstleister. Die machen das schneller als wir. Wichtig ist, dass Sie am Ende nicht irgendein schönes Papier haben, das im Schrank verschwindet – sondern ein konkretes Doing-Paper mit klaren Handlungsempfehlungen. Gerade Kommunen, die sich bislang wenig mit Tourismus beschäftigt haben, brauchen eine realistische Einschätzung: Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Und was ist in drei bis fünf Jahren überhaupt machbar? Dafür ist so eine Potenzialanalyse der richtige erste Schritt.
Dann ist sicher auch das Thema Marketing wichtig – schließlich gibt es ja viele Player im Tourismus, die um die Gunst der Gäste buhlen, oder?
Sicher, ein großer Fehler bei dem Thema ist, wenn jede Gemeinde für sich alleine loszieht. Man muss sich dabei zusammenschließen, Kompetenzen bündeln und eine gemeinsame Sprache finden – gerade kleinere Regionen. Neben der touristischen Vermarktung durch Tourismus Marketing Baden-Württemberg (TMBW), der Baden-Württemberg vertritt, ist als gemeindeübergreifende touristische Organisation der Schwarzwald Tourismus die größte Marketing-Organisation im Land. Die machen das professionell. Und genau das braucht es – eine starke, überregionale Struktur. Wenn wir über Vermarktung sprechen, geht es nicht nur darum, dass man ein paar schöne Bilder ins Netz stellt. Es geht darum zu klären: Was ist eigentlich meine Marke – und was ist mein Produkt? Die Marke ist zum Beispiel Hohenlohe. Aber was vermarkten Sie konkret? Eine Hängebrücke? Ein Museum? Das sind Ihre Produkte. So wie man bei Mercedes nicht das Werk vermarktet, sondern das Auto, vermarkten Sie als Region auch nicht nur den Namen, sondern das Erlebnis. Wir dürfen hier nicht in Landkreisgrenzen denken, sondern in Gebieten, Marken und Produkten. Der Tourist kennt keine Verwaltungsstruktur – der will wissen: Wo kann ich hin, was kann ich erleben, wo kann ich schlafen und essen? Das braucht Zeit. Mallorca ist auch nicht über Nacht zur Marke geworden. Aber wer hier klug investiert, kann langfristig echte Wertschöpfung in die Region holen.
Es braucht also Geduld und Anfangsinvestitionen, bis man vom Tourismus profitiert?
Absolut.Tourismusentwicklung braucht Zeit – drei bis fünf Jahre, bis sich erste messbare Effekte zeigen, sind ganz normal. Viele Gemeinden erwarten zu schnell Ergebnisse. Aber wer wirklich etwas bewegen will, braucht einen langen Atem. Ich sage immer: Es braucht die Steve-Jobs-Denke. Er hat das Smartphone vorgestellt, als niemand es haben wollte – aber er wusste, dass der Bedarf kommen wird. Im Tourismus ist es genauso: Erst das Angebot schaffen, dann stellt sich die Nachfrage ein.