Das gemeinschaftliche Quartier im Ländlichen Raum
© Gemeinde Böhmenkirch

Ein "junges" Quartier im Ländlichen Raum

Das Projekt „Junges Wohnen“ in Böhmenkirch eröffnet jungen Menschen im Ländlichen Raum neue Perspektiven. Mitten im Ort entsteht ein Mini-Quartier, das man sonst eher in Großstädten findet und das Gemeinschaft und Identifikation stiften soll. Was das Projekt im Ländlichen Raum besonders macht: Dahinter steckt eine Baugemeinschaft.

Das Projekt „Junges Wohnen“ in Böhmenkirch adressiert gleich zwei zentrale Probleme von Städten und Gemeinden im Ländlichen Raum: Erstens ist der geplante Bau von vier Gebäuden mit zwölf Wohneinheiten ein Schritt, jungen Menschen eine Perspektive im Ort zu bieten und die demografische Lücke zu schließen, die durch ihren Weggang entsteht. Zweitens handelt es sich um ein Nachverdichtungsprojekt, das eine zentrumsnahe Baulücke schließt und für das kein neues Bauland erschlossen werden muss. Aber von Anfang an: Anstoß für das Projekt gab das Gemeindeentwicklungskonzept, das zusammen mit dem Büro „Reschl Kommunale Projektentwicklung“ entwickelt wurde. Die Gemeinde hat es im Juli dieses Jahres beschlossen, umgesetzt werden soll es bis 2035.

Junge Menschen im Ort halten oder zurückgewinnen

Eines der Probleme, die im Rahmen der Analyse zutage getreten sind, besteht – wie in vielen anderen Orten – im Mangel an verfügbaren Mietwohnungen und an der damit zusammenhängenden Tatsache, dass junge Menschen den Ort verlassen und frühestens wiederkehren, wenn sie eine Familie gegründet haben. Die Lücke, die sie hinterlassen, ist groß. „Wenn jemand so lang weg ist, fehlt er der Gemeinschaft. Er ist zum Beispiel nicht mehr in den Vereinen aktiv, fehlt als Mitglied oder als Übungsleiter“, sagt Bürgermeister Matthias Nägele im Gespräch mit die:gemeinde. Für die Gemeinde erschien die Idee eines Wohnprojekts für junge Menschen vor diesem Hintergrund attraktiv. Unter dem Titel „Junges Wohnen“ firmiert das Projekt zwar auch. Doch von dem gleichnamigen Modellprojekt des Landes Baden-Württemberg, das im Januar 2021 gestartet war, unterscheidet es sich in wesentlichen Aspekten. Denn beim Landesprojekt geht es zwar auch um Nachverdichtung. Im Fokus steht dabei aber der Umbau alter ungenutzter Gebäude wie Kirchen oder Scheunen zu Wohnstätten. So zum Beispiel in Dornstadt, wo der Umbau einer Scheune mit Gewölbekeller zu einer Gemeinschaftswohnung geplant ist, oder in Riedlingen, wo das ehemalige Rathaus in der Dorfmitte umgewandelt werden soll.

Junges Wohnen im Ländlichen Raum

Gemeinschaftsorientierte Quartierslösung (nicht nur) für junge Menschen

In Böhmenkirch dagegen ist es eine Baugemeinschaft junger Leute, die vier Häuser mit insgesamt zwölf Wohnungen bauen lässt. „Die Kopplung von jungem Wohnen und einer Baugemeinschaft im Ländlichen Raum ist ein absolutes Novum“, sagt Stadtplaner und Stadtsoziologe Richard Reschl im Gespräch mit die:gemeinde. Auf dem Gelände mitten in Böhmenkirch entsteht ein Quartier, das man so sonst eigentlich nur in größeren Städten vorfindet. Die konventionelle Einfamilienhaus-Struktur – eigentlich waren laut Bebauungsplan zwei Einfamilienhäuser vorgesehen – wird hier zugunsten einer gemeinschaftsorientierten Quartierslösung mitsamt Tiefgarage aufgegeben, ohne dass die städtebauliche Umgebung optisch Schaden nimmt. Die Gebäude werden in Holzständerbauweise errichtet, hohe energetische Standards werden durch den Einsatz von Wärmepumpen und Photovoltaik erreicht. Ein weiterer Vorteil gegenüber dem Modellprojekt des Landes ist die relativ kurze Zeit zwischen Planung und Ausführung. So geht Matthias Nägele davon aus, dass bereits im kommenden Jahr mit dem Bau der vier Häuser begonnen werden kann. Auch wenn das Motiv also ähnlich sei, der Ansatz in Böhmenkirch sei pragmatischer ausgerichtet als der des Landesprojekts, dessen Prozesse längere Zeit in Anspruch nähmen, bilanziert Richard Reschl. 

Identifikation durch Eigentumsbildung?

Insgesamt sind es fünf Faktoren, die das Projekt aus Sicht Reschls einzigartig machen: Erstens die hohe städtebauliche Qualität, die sich dadurch auszeichnet, dass die Planer auf die Umgebung Rücksicht genommen haben und die Kubatur der Neubauten optisch an die bestehenden Gebäude angepasst haben. Zweitens die hohen ökologischen Standards, die durch die Holzständerbauweise erreicht werden. Drittens der nachbarschaftlich-gemeinschaftliche Effekt, der durch die Bauform und Anordnung der Häuser entstehen soll – kurzum: der Effekt, dass ein echtes Quartier entstehen kann und nicht nur vier isolierte Neubauten. Ein Gemeinschaftshof, ein Spielplatz und Obstwiesen sollen einen Beitrag dazu leisten. Viertens schwebt Reschl vor, dass über die Eigentumsbildung eine Identifikation mit der Nachbarschaft und der Gemeinde entsteht. Aus Sicht des Stadtplaners ein wichtiger Punkt in Zeiten, in denen es jungen Menschen angesichts steigender Baukosten und Darlehenszinsen immer schwerer gemacht wird, selbst Eigentum zu bilden. Fünftens und direkt mit dem vierten Punkt zusammenhängend: Durch das Bauprojekt entsteht regionale Wertschöpfung, denn alle am Bau beteiligten Firmen stammen aus der Region, die finanzierende Bank inbegriffen.

Junges Wohnen im Ländlichen Raum 2

Wie möchten junge Menschen im Ländlichen Raum wohnen?

Bevor sich die Baugemeinschaft bildete, hatte das Planungsbüro einen Workshop mit den jungen Leuten im Ort durchgeführt, der ihre Bedürfnisse ausloten sollte. Welchen Bedarf an Zimmern gibt es? Welche Zuschnitte werden gewünscht? Wollen die Jugendlichen in Wohngemeinschaften wohnen? Wie sich herausstellte, dachten einige bereits über die Zeit von Ausbildung und Studium hinaus und über die Gründung einer Familie nach, was sich darin niederschlug, dass auch Wohnungen größeren Zuschnitts (drei bis vier Zimmer) gewünscht wurden. Rund 60 Personen fanden sich bei der Auftaktveranstaltung ein, mehr als 30 bekundeten Interesse an einer Wohnung. Auch bei anderen Projekten geht das Team so vor. Es prüft das Potenzial von Baulücken und Leerständen und setzt es in Beziehung zur demografischen Entwicklung der kommenden Jahre. Es definiert „Schlüsselgrundstücke“, deren Bebauung städtebauliche Impulse auslösen könnte, und erstellt Machbarkeitsstudien. Die Eigentümerin des Grundstücks konnten Nägele und Reschl für das Projekt überzeugen, was angesichts des unkonventionellen Konzepts keine Selbstverständlichkeit ist.

Projekt trägt zur Nachverdichtung bei

In Böhmenkirch könnte der Baustart nach Einschätzung von Matthias Nägele bereits 2023 sein. Auch dem Bürgermeister ist es wichtig zu betonen, dass es sich nicht um ein normales Bauprojekt handelt, sondern um ein Quartiersprojekt. Die Tiefgarage ist dabei ein entscheidendes Element, denn der wachsende Parkdruck und die Frage danach, wie Kommunen mit dem öffentlichen Raum umgehen, spielen auch in Böhmenkirch eine immer wichtigere Rolle. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Autobesitzer den öffentlichen Raum zum Nulltarif für sich beanspruchen können – der öffentliche Raum ist ein Gut, dessen Nutzung wohlüberlegt sein will. Auch für den Böhmenkircher Gemeinderat spielte das Thema Parkdruck eine herausgehobene Rolle. Da das Projekt zur Nachverdichtung beiträgt und zentrumsnah liegt, können die meisten Erledigungen aber gut zu Fuß oder mit dem Rad gemacht werden, sei es zum Rathaus oder zum Supermarkt. Als „Quartier in Miniatur“ bezeichnet Matthias Nägele deshalb das Projekt. 

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Ist das Projekt nur für junge Menschen gedacht?

„Wir setzen einen Akzent mit einem quartier-ähnlichen Konzept im Ländlichen Raum, das Qualität und Bezahlbarkeit zu verzahnen und vereinen versucht. Wir zeigen den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, dass es auch abseits von Einfamilienhäusern Strukturen gibt, die funktionieren können“, sagt Nägele. Den Begriff „Junges Wohnen“ dürfe man indes nicht auf die Goldwaage legen. „Es kann durchaus sein, dass sich ein älterer Mensch in einem der Häuser eine barrierefreie Wohnung im Erdgeschoss kauft und Alt und Jung beieinander wohnen. Auch das könnte das Ergebnis des Projekts sein“, betont Nägele. Aus Sicht Richard Reschls sind Projekte wie das in Böhmenkirch elementar, um die Attraktivität des Ländlichen Raums zu erhöhen. Denn für Reschl, der unter anderem Stadtplanung an der Hochschule für Technik Stuttgart (HFT) lehrt, muss sich vieles ändern. Kommunen werden es aus seiner Sicht nicht allein schaffen, die Wohnungsnot zu lindern. „Bauen ist eine Gemeinschaftsaufgabe“, sagt Reschl. Vor dem Hintergrund des Klimawandels habe der Ländliche Raum bedeutende Vorteile, nicht zuletzt, weil in Kommunen deutlich mehr Hitzetage erwartet werden.

Notwendigkeiten werden beim Bauen oft vergessen

Doch der Experte beobachtet viele Fehlentwicklungen. Noch immer werde zu wenig gebaut, dazu noch an der falschen Stelle – und auf die falsche Art und Weise. Denn während Geschosswohnungsbau das Gebot der Stunde sei, setze man vielerorts noch ausschließlich auf Einfamilienhäuser. Auch die Fokussierung auf die Menge der Wohnungen – die Bundesregierung hatte das Ziel ausgegeben, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr bauen zu wollen – sei falsch. Faktoren wie Baukultur, Heimat, Identifikation und der qualitative Anspruch ans Bauen seien ebenso wichtig. Faktoren, die beim Projekt in Böhmenkirch bewusst mit eingeflossen seien.

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Weitere Kommunen im Ländlichen Raum planen junge Quartiere

Auch andere Gemeinden Baden-Württembergs verfolgen mit der Unterstützung von Planungsbüros ähnliche Projekte. So zum Beispiel in Michelfeld (Landkreis Schwäbisch Hall), wo auf einem unbebauten Grundstück neben einem Seniorenheim ein Quartier mit bis zu 16 Wohnungen entstehen könnte. Ziel ist die Entwicklung eines gemischten Quartiers, das sich nicht exklusiv an eine Zielgruppe richte und dessen Außenbereich mit Grillplatz, Ruhezone und Hausgarten gemeinschaftlich genutzt werden könnte. Die Gemeinde Blaufelden (Landkreis Schwäbisch Hall) entwickelt zusammen mit Reschls Büro ebenfalls ein Junges-Wohnen-Projekt. Dort ist ein Quartier mit 15 Wohnungen in Reihen- und Doppelhausbauweise samt Tiefgarage auf einer Fläche von insgesamt 3.500 Quadratmetern geplant. Wie in Böhmenkirch und Michelfeld liegt auch hier der Fokus auf der Gemeinschaft: Das neue Quartier ist von großzügigen Freiflächen umgeben, die als Grillplätze oder Gärten genutzt werden könnten. Das Motto hier: Baulücken schließen: Ja. Jeden Zentimeter Bauland zubauen: Nein.